Bernhard Peter
Tödliche Samen (2): Paternostererbse

Woher kommt Abrin?
Abrin ist das Gift der Paternostererbse (Abrus precatorius) aus der Familie der Schmetterlingsblütler (Fabaceae). Ursprünglich war die Pflanze in Indien beheimatet, mittlerweile ist sie in den gesamten Tropen anzutreffen. Bei uns wird sie vereinzelt als Zimmerpflanze angeboten. Die Pflanze ist ein ausdauernder, schöner Kletterstrauch und besitzt Ranken mit gefiederten Blättern. Die knallroten Samen sind etwa 5 mm groß und besitzen einen schwarzen Nabelfleck. Weitere Namen der Pflanze sind im Englischen Jequiriti bean oder Rosary pea.

Eine besondere Gefahr stellt die Verwendung dieser Samen in Schmuckketten z. B. aus Asien oder Afrika dar. Die farblich ansprechende Optik des Äußeren ist oft genug Anlaß, die Samen für die Verzierung von Gegenständen oder für Schmuck einzusetzen, und der nichtsahnende Tourist kann sie auf Souvenirmärkten und Basaren tropischer Länder erwerben. Auch als Zierrat für Blumengestecke kommen diese Samen vor, als Klumpen an Holzstäben montiert. Den Namen Paternostererbse hat sie von dem Verarbeiten zu Rosenkränzen. So wird das hübsche Mitbringsel zur latenten Gefahr, zur tickenden Zeitbombe, bis zu dem Zeitpunkt, wo Kinder oder Haustiere sich von dem Objekt angezogen fühlen. Eine zweite große Gefahrenquelle ist die Verwechslung mit anderen, eßbaren Samen, z. B. in Gewürzmischungen, die von unkundigen Personen zusammengestellt werden und ebenfalls im Ausland als Mitbringsel gekauft werden. Die Samen werden auch in der ayurvedischen Medizin eingesetzt, z. B. als Bestandteil von kosmetischen Produkten und als Paste, doch die Herstellung nach traditionellen Prozessen entgiftet die Samen. Deshalb ist es sehr wichtig, solche ayurvedischen Produkte nur aus sicheren Quellen zu beziehen und weder Straßenständen zu vertrauen noch eigene Herstellung zu versuchen.

Wie giftig ist Abrin?
Die Paternostererbse enthält ca 0,075-0.080 % Abrin in den Samen. Abrin ist dabei kein Reinstoff, sondern ein Sammelbegriff für 4 Isotoxine. Abrin setzt sich aus vier verschiedenen Komponenten zusammen, die als Abrin A, Abrin B, Abrin C und Abrin D bezeichnet werden. Abrin A ist die giftigste der vier Verbindungen. Abrin A gehört wie auch Ricin zu den stärksten biogenen Giften und zu den toxischsten Eiweißkörpern überhaupt. Es wird nicht durch Verdauungsenzyme zerstört und es ist auch für ein Eiweiß ziemlich hitzestabil. Trotz seiner Molekülgröße wird es rasch im Darm aufgenommen. Für den Menschen ist die tödliche Dosis ca. 1 mg/kg Körpergewicht (die LD50-Werte für Mäuse liegen mit ca 10 µg/kg oral noch viel niedriger). Das heißt, daß bereits ein einziger Same, der ca. 75 µg Abrin enthält, bei einem erwachsenen Menschen eine schwere Vergiftungssymptomatik und eine lebensbedrohliche Situation hervorrufen kann. Bei Kindern können 75-150 µg, also 1-2 Samen, zum Tod führen, bei Kleinkindern genügt eine noch geringere Menge. Dabei macht es auch einen Unterschied, in welcher Form der Same vorliegt. Der Same hat eine sehr harte Schale. Bleibt der Same intakt, gelangt weniger Gift beim Verschlucken in den Körper als bei verletzter Außenhaut. Werden solche Samen zu Schmuck verarbeitet, also durchbohrt, durchgeschnitten o.ä., dann gelangt wesentlich mehr Gift ins Blut. Deshalb stellen verarbeitete Samen eine größere Gefahr dar als intakte Samen. Das Alter der Samen ist ebenfalls von Bedeutung: Intakte ältere Samen geben wenig Gift ab, aber junge Samen mit noch weicher Außenhülle geben sehr viel Gift ab. Eine unberechenbare Größe ist weiterhin, ob im Verdauungstrakt ein bakteriell vermittelter Aufschluß erfolgt und für eine Freisetzung des Toxins sorgt. Auch nicht durchbohrte Paternostererbsen können je nach Verarbeitungsprozeß Beschädigungen aufweisen. Das sind alles unwägbare Faktoren, die es verbieten, beim Verschlucken ganzer Samen ohne sichtbare Beschädigung in geringerem Ausmaß von Lebensgefahr auszugehen.

Abrin A - ein Lektin
Abrin A ist das giftigste der vier Isotoxine. Es handelt sich um ein Lektin. Ein Lektin ist ein Glykoprotein, ein Eiweißkörper, der mit Zuckerresten versehen ist. Grundgerüst ist ein Protein, das aus zwei separaten Aminosäureketten besteht. Zur Lektin-Eigenschaft gehört noch dazu, daß das Gift eine spezifische Affinität zu bestimmten Monosaccharid-, Aminozucker-, Uronsäure- oder Oligosaccharidresten hat und nebenvalente Wechselwirkungen zu Oberflächen wie Zellmembranen eingehen kann, die genau diese Reste tragen. Genau das sorgt dafür, daß das Gift nur an bestimmten Zieloberflächen bindet. Die B-Kette bindet spezifisch an Galactose auf Oberflächen. Wie manche bakterielle Protein-Gifte wählt sich auch das Abrin sein Ziel selbst aus.

Abb.: 3D-Raumstruktur von Abrin A, PDB-ID 1ABR, visualisiert mit Chimera. Seitenansicht, unten die erste Untereinheit, oben die zweite Untereinheit, rote Bereiche sind die Zuckerketten.

Wie manche bakterielle Toxine (Cholera, Enterotoxin von E. coli, Pertussis) besteht das Abrin A aus zwei Untereinheiten, die hier über eine Disulfidbrücke und hydrophobe Wechselwirkungen miteinander verbunden sind. Die Disulfidbrücke, die die A-Kette mit der B-Kette verbindet, liegt zwischen Cys-247 der A-Kette und Cys-8 der B-Kette. Ein Teil, die B-Kette, ist das Transport- und Zielerkennungs-Vehikel, auch Haptomer genannt, der andere Teil, die A-Kette, ist der Schadensbringer, auch das Effektomer genannt. Die längere B-Kette (M = 31432) sorgt dafür, daß nach dem Herstellen des Kontaktes zur Membran der Zielzelle die kürzere A-Kette (M = 27977) durch Endocytose in die Zelle eindringen kann. Dann werden A- und B-Kette durch reduktive Spaltung der die beiden verbindenden Disulfidbrücke getrennt. Auch dies geschieht genauso bei Ricin sowie bei vielen Bakterien-Toxinen. Die Faltung des Proteins ist der des Ricins ziemlich ähnlich, aber in der Sekundärstruktur gibt es einige Unterschiede, hauptsächlich in der A-Kette. Die B-Kette ist das Glycoprotein mit zwei Zuckerseitenketten. Die B-Ketten von Ricin und Abrin sind sehr ähnlich, die Übereinstimmung beträgt 60%. Die A-Ketten haben nur eine Übereinstimmung von 42% - was aber eine ganze Menge ist, wenn man bedenkt, wie weit die beiden Stammpflanzen taxonomisch auseinanderstehen, hier ein Wolfsmilchgewächs, dort ein Schmetterlingsblütler.

Abb.: 3D-Raumstruktur von Abrin A, PDB-ID 1ABR, visualisiert mit Chimera. Andere Seitenansicht, unten Erkennungsregion, oben eigentliches Gift, rote Bereiche sind die Zuckerketten.

Der untere Teil, bestehend aus der ersten Aminosäuresequenz, hier in blau eingefärbt, ist die Region, mit der das Gift an der Zielzelle andockt. Hier ist die Erkennungsregion. Die A-Kette ist der Schadensbringer selbst, der hier in Orange im Huckepack auf der B-Kette sitzt. Er ist der eigentliche Bösewicht, der aber nur dann in Aktion tritt, wenn die Erkennungsregion ihr Ziel erkennt, an der Zelle andockt und die Einschleusung veranlaßt. Das erklärt, warum eine so winzige Menge Gift so effektiv ist.

Abb.: 3D-Raumstruktur von Abrin A, PDB-ID 1ABR, visualisiert mit Chimera. Seitenansicht auf beide Ketten. Die zwei einzelnen Aminosäureketten sind farblich unterschieden (blau ist die B-Kette und orange die A-Kette), die zwei gelben kurzen Teile sind die Zucker.

Abb.: 3D-Raumstruktur von Abrin A, PDB-ID 1ABR, visualisiert mit Chimera. Andere Seitenansicht auf beide Ketten. Die zwei einzelnen Aminosäureketten sind farblich unterschieden (blau ist die B-Kette und orange die A-Kette), die zwei gelben kurzen Teile sind die Zucker.

Wie wirkt Abrin A?
Der toxische Mechanismus ist bei Abrin und Ricin gleich. Die A-Kette ist der eigentliche Schadensverursacher, eine N-Glykosidase Wie Ricin hydrolsiert Abrin N-C-glycosidische Bindungen an Ribosomen. Ribosomen sind die Zellorganellen, an denen die Zelle durch Aneinanderhängen von Aminosäuren Proteine zusammenstellt. Die A-Kette hat es auf 60S-Ribosomen abgesehen, genauer: Sie spaltet Adenin von den Positionen 4 und 324 der 28S rRNA ab. Durch das Abspalten eines wesentlichen Bestandteiles kann das Ribosom nicht mehr mit GTP oder GDP wechselwirken, die Aminoacetyl-t-RNS kann nicht mehr an das Ribosom andocken, die Verlängerung der entstehenden Aminosäureketten wird verunmöglicht. Kurz und bündig: Die zelleigene Protein-Synthese wird gestoppt.

Das eigentliche Gift ist also ein Enzym. Und genau das bewirkt, daß eine so geringe Menge Gift so gefährlich ist. Denn Enzyme wirken katalytisch, können ihre schädliche Aktion immer wieder und wieder ausführen. Ein einziges Molekül kann also die Eiweiß-Synthese an allen Ribosomen einer Zelle lahmlegen. Das Abrin, einmal in eine Zelle geschleust, ruht nicht eher, als bis die ganze Zellchemie verändert ist und die Zelle zusammenbricht. Ein einziges Molekül Gift reicht aus, um die ganze Zelle lahmzulegen.

Wie verläuft eine Abrin-Vergiftung?
Die Vergiftungssymptome sind die gleichen wie beim Ricin beschrieben. Abrin ist ein starkes Reizgift für Darm und Bindehäute und ruft Durchfälle, Erbrechen, Koliken, Tachykardie und Tremor hervor. Von wenigen Stunden bis zu zwei Tagen reicht die Zeitspanne, bis Magenschleimhautreizungen und andere gastrointestinale Symptome auftreten. Dazu kommen Unterleibsschmerzen und Schwächegefühl, bis hin zu einer hämorhagischen Gastritis. Der hohe Flüssigkeitsverlust durch Durchfall und Erbrechen erhöht das Risiko für ein Kreislaufversagen. Das Gift schädigt die Zellen von Niere, Milz, Leber und im lymphatischen Gewebe. Der Tod tritt nach Tagen durch Nierenversagen, Kreislauf- oder Herzversagen und/oder durch Atemlähmung ein, letzteres eine Folge von Lämungen im zentralen Nervensystem.

Gibt es ähnliche Gifte?
Wenn wir bei der Paternostererbse bleiben, gibt es natürlich noch die drei andern Isotoxine Abrin B, Abrin C und Abrin D. Ein ganz ähnlich gebautes Gift hat der Rizinus (Ricinus communis) mit dem Ricin. Ähnlich gebaut sind weiterhin das Modeccin aus Adenia digitata sowie das Volkensin aus Adenia volkensii und das Dodecandrin aus Phytolacca dodecandra. Alle wirken auf die hier beschriebene Weise.

Gibt es sinnvolle Maßnahmen der Ersten Hilfe?
Im Vordergrund der Bemühungen steht die schnelle Entfernung der Giftstoffe, z. B. durch Magenspülung, Abführmittel, Gabe schleimhaltiger Suspensionen von Aktivkohle. Eine Hämodialyse zur Entfernung des Toxins ist wegen des großen Molekulargewichts der Lektine nicht möglich. Ansonsten zielen die wichtigsten Maßnahmen auf Stabilisierung des Kreislaufs und Verhinderung eines Nierenversagens. Es gibt kein spezifisches Antidot; die Therapie ist lediglich Schadensbegrenzung und Erhalt der Vitalfunktionen.

Und wenn der Hund drangeht?
Hunde, die sich möglicherweise genauso wie kleine Kinder von den hübschen Samen zum Spielen und Knabbern angezogen fühlen, sind ebenfalls gefährdet. Sie scheinen etwas weniger empfindlich zu sein als beispielsweise Mensch oder Nager. Typische Vergiftungserscheinungen sind Schwäche, Apathie, Apettitlosigkeit, erhöhte Temperatur bis leichtes Fieber. Es wurden jedoch keine zentralnervösen Symptome und kein Versagen von Niere und/oder Leber beobachtet. Das ist jedoch keinerlei Freibrief zur Nachlässigkeit: Hund und Paternostererbsen gehören nicht in den selben Raum, schon gar nicht unbeaufsichtigt. Es handelt sich in jedem Fall um eine schwere, potentiell lebensbedrohliche Vergiftung, nur die Prognose ist weniger schlecht als beim Menschen. Dafür sollte man aber auch berücksichtigen, daß der Hund in der Regel ein geringeres Körpergewicht hat und die aufgenommene Dosis pro Kilogramm Körpergewicht pro Samen gleich größer ist, so etwa wie bei einem Kleinkind.

Literatur:
Eberhard Teuscher: Biogene Arzneimittel, WVG-Verlag, 5. Auflage, 1997
Eberhard Teuscher, Ulrike Lindequist: Biogene Gifte, 2. Auflage, Gustav Fischer Verlag 1994
Schweizer Bundesamt für Gesundheit: Paternostererbsen in exotischen Schmuckketten, Aufklärungsblatt, Bern, 2006
Mitteilung des Bundesinstituts für Risikobewertung: Paternostererbsen, Rizinus & Co. - Exotische Souvenirs können giftige Pflanzensamen enthalten, Mitteilung Nr. 024/2019 des BfR vom 3.7.2019
Roth, Daunderer, Kormann: Giftpflanzen, Pflanzengifte, Nikol-Verlag 1994
PDB-ID 1ABR, http://www.rcsb.org/pdb/
Tahirov, T. H., Lu, T. H., Liaw, Y. C., Chen, Y. L., Lin, J. Y.: Crystal structure of abrin-a at 2.14 A. J Mol Biol 250 pp. 354 (1995)
http://www.giftpflanzen.com/abrus_precatorius.html

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